Monitor Jugendarmut 2020: ungleiche Chancen für junge Menschen

Veröffentlicht am: 07. Oktober 2020

Auf die bestehende Ungerechtigkeit in den (Start-)Chancen junger Menschen macht der Monitor „Jugendarmut in Deutschland 2020“ der Katholischen Jugendsozialarbeit in Deutschland (KJS) aufmerksam. 

Ein Beispiel dafür: Die Geschichte von Steffen aus Nürnberg. Der 25-Jährige hat einen schwierigen Lebensweg hinter sich: Vom Stiefvater verprügelt, von der Mutter allein gelassen, zog Steffen als Kind von Heim zu Heim, wurde irgendwann obdachlos, nahm Drogen. Aufgefangen haben ihn die Sozialarbeiter*innen des Don Bosco Jugendwerks Nürnberg mit den niederschwelligen Angeboten des Bereiches „Stellwerk“. Mittlerweile macht er eine Ausbildung zum Erzieher und ist stolz auf sich. Zurecht, denn der Ausstieg aus der Abwärtsspirale ist nicht leicht, wenn ein Jugendlicher erst mal auf der Straße gelandet ist: „Es gibt eine Sogwirkung nach unten, sobald jemand den Entschluss fasst, auf die Straße zu gehen. Dann beginnt unweigerlich ein Teufelskreis“, sagt Sozialpädagogin Tanja Holzmeyer, Leiterin des „Stellwerks“. „Und umso länger man sich nach unten ziehen lässt, umso schwerer wird es, da auszusteigen. Jede helfende Hand und Unterstützung ist dann wichtig.“

Das Interview mit Tanja Holzmeyer und die Geschichte von Steffen sind im Monitor Jugendarmut nachzulesen. Sie veranschaulichen die Probleme und Ungerechtigkeiten, die der Monitor ausführlich mit Zahlen und Fakten beleuchtet: die Verfügbarkeit von Ausbildungsplätzen, den Wohnungsmarkt als zusätzliche Hürde, die mangelnde soziale Teilhabe sowie die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Perspektiven benachteiligter Jugendlicher..

Der Tenor des Monitors „Jugendarmut in Deutschland 2020“: Jugendarmut beschneidet die Entwicklungs- und Teilhabechancen junger Menschen erheblich und oft dauerhaft. Betroffene starten unter deutlich schlechteren Bedingungen in ihre Selbständigkeit als finanziell besser abgesicherte junge Menschen. Und Corona verschärft diese Ungleichheit.

  

Den „Monitor Jugendarmut in Deutschland 2020“ zum Download und viele weitere Informationen zum Thema Jugendarmut finden Sie auf der Homepage der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS e.V.)

Tanja Holzmeyer

Tanja Holzmeyer ist Sozialpädagogin und Leiterin des Bereiches Stellwerk im Don Bosco Jugendwerk Nürnberg. Sie kümmert sich in ihrem Bereich um Jugendliche zwischen 15 und 25 Jahren, die sich aus der Gesellschaft zurückgezogen haben. Stellwerk verknüpft Leistungen verschiedener Hilfesysteme und bietet den jungen Menschen im Stadtgebiet Nürnberg eine „Rund-um-die-Uhr“-Erreichbarkeit.

 

Frau Holzmeyer, Ihre Angebote setzen sehr niederschwellig an. Wie arbeiten Sie konkret?

Wir arbeiten in einer Kombination aus klassischer Überlebenshilfe und pädagogischer Beratung. Im Offenen Treff beispielsweise können junge Menschen ihre Wäsche waschen, sich zurückziehen, auch etwas essen, sich versorgen und es ist immer eine pädagogische Fachkraft vor Ort. Man kann sich bei uns also auch beraten lassen. Wir können Jugendliche, die „entkoppelt“ sind, die also gar nicht mehr vom System erreicht werden, hier langsam wieder an das Hilfesystem heranführen. 

 

Wie gelingt das?

Das ist individuell ganz unterschiedlich. Es gibt Menschen, die mit Leistungsdruck und einem Hilfeplan oder mit Eingliederungsvereinbarungen umgehen können und die dadurch wie-der Ziele definieren lernen. Es gibt aber einfach auch System-verweigerer, die kommen mit Druck nicht klar. Die sind so weit weg von alledem, dass es erstmal nur drauf ankommt, sie anzunehmen wie sie sind. 

Das ohne Druck machen zu können, das ist essenziell für unsere Arbeit. Einzelfallbezogen agieren zu können, das ist wirklich das A und O. 

 

„Damit das Leben junger Menschen gelingt“ – so lautet der Leitspruch bei Don Bosco. Was geben Sie den Menschen an die Hand, um das zu erreichen?

Ich kann keine Handlungskompetenzen aufzählen, die pauschal dazu führen, dass das Leben gelingt. Aber man kann in der gemeinsamen Arbeit diese Handlungskompetenzen finden. Manchmal ist eine Aktivierung ganz wichtig, die jungen Menschen dabei hilft, eigene Tagesstrukturen herstellen zu können. Oder gute Beziehungsarbeit führt dazu, dass sie sich wieder dem Hilfesystem öffnen können.

 

Das heißt, das Wichtigste ist, dass eine Tür offensteht?

Ja. Wir sind 365 Tage im Jahr da und haben täglich geöffnet von 8 bis 20 Uhr. Außerdem gibt es ein kostenloses Krisentelefon. Das ist absolut gewinnbringend in der Beziehungsarbeit. Und für die Jugendlichen bleibt das Gefühl „ach cool, die sind ja wirklich da“. 

 

Was sind nach Ihrer Erfahrung die größten Risikofaktoren für die Jugendlichen?

Es gibt die klassischen Biographien, wo die Eltern schon suchtmittelerfahren sind, wo es Gewalterfahrung gibt, man schon als Säugling in die Pflegefamilie kommt. Wo dann die Jugendhilfe losgeht und jemand in verschiedenen Wohngruppen gelebt hat und immer wieder rausgeflogen ist. 

Es gibt aber auch diejenigen, die aus stabilen Familien kommen und die in der Pubertät so einen Freiheitsdrang entwickelt haben, dass Eltern überfordert sind. Es ist alles dabei. 

 

Teilhabe und ein Leben auf der Straße – das geht in keinem Fall zusammen?

Genau, es gibt eine Sogwirkung nach unten, sobald jemand den Entschluss fasst, auf die Straße zu gehen. Dann beginnt unweigerlich ein Teufelskreis. Denn dann kommen die Drogen, die Probleme mit der Polizei, die Schulden oder die erste Haft. Und umso länger man sich nach unten ziehen lässt, umso schwerer wird es, da auszusteigen. Jede helfende Hand und Unterstützung ist dann wichtig. 

 

Wie sieht Ihre Bilanz aus?

Jede einzelne Geschichte hier ist ein Erfolg. Weil wir Menschen die Hand reichen können. Bei den einen dauert das ewig lang, wir begleiten manche Menschen über Jahre. Andere Jugendliche wiederum sehen wir nur kurz, die brauchen nur einen kurzen Anstupser und dann sind sie wieder weg. Aber jede Geschichte hat ihren eigenen kleinen Erfolg.

 

Das Interview stammt aus dem „Monitor Jugendarmut in Deutschland 2020“ der Bundesarbeitsgemeinschaft Jugendsozialarbeit (BAG KJS). Mehr dazu unter www.bagkjs.de

Steffen aus Nürnberg hat einen schwierigen Lebensweg hinter sich – Gewalterfahrungen und Drogenkarriere inklusive. Aufgefangen haben ihn die Sozialarbeiter im Don Bosco Jugendwerk Nürnberg.

 

Stolz erzählt Steffen vom Leben auf diesem Vereinsplatz, seinem neuen Zuhause, wo rund dreißig Menschen in ihren Bauwagen wohnen. Fließendes Wasser oder Strom sucht man hier vergebens. „Jeden Liter Wasser, den man benutzt, muss man vorher bewegen.“ Das Handy lädt über die Solaranlage und „an einem Erdkühlschrank wird aktuell gebaut“. Nachhaltig und sozial soll der Alltag hier sein. Doch ausschlaggebend für Steffen ist etwas anderes, nämlich den Luxus Freiheit spüren zu können. Schon in früher Kindheit, sagt der 25-jährige, sei ihm das Freisein das Wichtigste gewesen. Als er zum Beispiel regelmäßig „mit dem Fahrrad abhaute, um von Zuhause weg zu kommen“.

Der bisherige Lebensweg des sympathischen jungen Mannes ist nichts für schwache Nerven: Vom Stiefvater regelmäßig verprügelt, von der Mutter allein gelassen, zog Steffen als Kind von Heim zu Heim, lebte zwischenzeitlich bei seinen Großeltern, bevor er obdachlos wurde. Unter einer Brücke in Nürnberg bezog er sein Nachtlager und landete in der Punk-Szene, „in der es gute Leute gibt, die sich auch politisch engagieren“. Aber da gebe es eben auch „die Sauf- und Drogen-Punker, die nichts geschissen kriegen.“ An die sei er geraten und habe bald an Drogen „mit wenigen Ausnahmen so ziemlich alles genommen“.

"Ich muss da raus, sonst gehe ich hops."

Dass Steffen heute so offen über all das reden kann, habe damit zu tun, dass er „alles was passiert ist, immer wieder gedanklich durchgekaut“ habe. Er habe sehr viel Zeit gebraucht, um aufzuarbeiten, wie manche Menschen ihn behandelt hätten. Und diese Ruhe, um sich wirklich mal um die Vergangenheit kümmern zu können, die habe er vor einigen Jahren im Don Bosco Jugendwerk gefunden. Um wenigstens tagsüber wegzukommen von der Straße, verbrachte Steffen hier einen Monat lang „einfach den ganzen Tag von früh um 8 bis abends um 22 Uhr“. Hier wusch er seine Wäsche, hier bekam er etwas zu essen, hier konnte er „einfach nur abhängen – auch ohne dass großartige Bedingungen daran geknüpft waren“.

Nachts zurück auf der Straße aber, erlebte er dann seinen bisher schlimmsten Zusammenbruch: Er habe „eine heftige Überdosis gehabt“, auf all das, was er sich „eingeschmissen habe“. In diesem Moment wurde ihm klar: „Ich muss da raus, sonst gehe ich hops, sonst verrecke ich elendig.“ Und die Sozialarbeiter*innen, das ist ihm ganz fest in Erinnerung, die waren da, um ihn aufzufangen. Fast als hätten sie drauf gewartet, bis er soweit ist. 

Die Pädagogen von damals sind heute Kollegen

Steffen war damals längst nicht in der Verfassung, „direkt eine Ausbildung anzufangen oder so. Daran war gar nicht zu denken.“ Doch stundenweise in der Fahrradwerkstatt aushelfen, das ging. Es ging sogar sehr gut, wovon die selbst zusammengebauten Fahrräder hinter dem Bauwagen erzählen. Später folgte dann ein Freiwilliges Soziales Jahr und seit Kurzem absolviert Steffen eine Ausbildung zum Erzieher im Don Bosco Jugendwerk. 

„Die Pädagogen von damals sind heute Kollegen“, erklärt er stolz. Das sei „schon cool irgendwie“. Oder die Kinder im Hort, „die lieben mich“. Das sei „ein krasses Gefühl, das macht schon stolz“. 

Ob das Jugendhilfesystem ihn gerettet habe? Steffen sagt: „Ja, das kann man schon so sagen.“

Und so sitzt er da vorm Bauwagen, der junge Mann mit den nackten Füßen, und blinzelt in die Sonne. Frei nach Don Bosco, der jungen Menschen schon damals den Rat gab: „Steht mit den Füßen auf der Erde und wohnt mit dem Herzen im Himmel.“ 

Steffen tut genau das – barfuß.

 

Die Geschichte von Steffen wurde im Monitor „Jugendarmut in Deutschland 2020“ der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS) veröffentlicht. Mehr dazu: www.bagkjs.de

Im Monitor „Jugendarmut in Deutschland“ stellt die Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS) e.V. alle zwei Jahre Daten und Fakten zur Situation benachteiligter junger Menschen zwischen 14 und 27 Jahren zusammen. Ziel des Monitors ist es, die Anliegen benachteiligter Jugendlicher stärker in den Fokus zu rücken. Als Quellensammlung liefert er fundierte Informationen, um den politisch-gesellschaftlichen Diskurs zu fördern und Jugendarmut wirksam zu bekämpfen.  

Mehr dazu sowie den gesamten Monitor Jugendarmut als Download finden Sie unter www.bagkjs.de